Bericht über die Studienfahrt ins Baltikum 2004
Anreise
Früh um 4.15 Uhr alle Mann/Frau rein in den Bus. Es herrscht Aufgeregtheit, Vorfreude, Reisefieber - aber auch Müdigkeit. Fahrt nach Frankfurt. Rein ins Flugzeug, durchzählen, alle da. Um 12.50 Uhr Ortszeit sind wir auf estnischem Boden. Unsere Reiseleiterin Nicole holt uns ab und es geht mit Bus und Fahrer Sascha zum Hotel Ilmarine. Das Hotel ist erst 1 Jahr alt und ziemlich nobel. Wir kommen hier um 14.00 Uhr an. Um 15.00 Uhr geht's mit dem Bus zum Domberg. Von hier oben gibt es einen sehr schöner Blick auf die Stadt. Von jetzt an geht's zu Fuß weiter, durchzählen, fehlt da nicht einer? Das Wetter ist eher bescheiden, aber wir sind mit Schirm, festem Schuhwerk und Mützen gut ausgerüstet. Unsere Stadtführerin Amelie weiss eine Menge über Tallinn. Sie gibt ihr Wissen an uns weiter und führt uns zu allen wichtigen Sehenswürdigkeiten. Wie wir so vor der Domkirche stehen und gespannt den Ausführungen Amelies lauschen, hauts mich irgendwie aus den Latschen. Ich lieg der Länge nach auf dem Kopfsteinpflaster (Mittelalter!!!!), steh aber sofort wieder auf. Es ist nichts passiert, und Gott sei Dank hats kaum jemand bemerkt, ich stand ja ganz hinten.
29 % aller Einwohner Estlands leben in der Hauptstadt Tallinn. Vor 10 Jahren lief hier im Hafen die Fähre Estonia aus, die aus ungeklärten Gründen direkt vor dem Hafenbecken sank. Über 850 Menschen fanden seinerzeit den Tod. Die Stadt hat einen nahezu vollständig erhaltenen mittelalterlichen Kern. 1997 wurde sie in die Liste der Weltkulturerben der UNESCO aufgenommen. Finnen kommen gerne über die nur 35 km entfernte Grenze. Es gibt hier in Tallinn so herrliche Mitnahmeartikel, manche mit einem Gehalt von bis zu 80 %.
Die Geschichte Tallins ist recht wechselvoll. Der 1280 vollzogene Beitritt zur Hanse machte die Stadt für mehrere Jahrhunderte zum wichtigen Wirtschaftszentrum. Im 15. Jh hatte Tallinn seine Blütezeit, weitreichende Handelsverbindungen sorgten für eine durch vielfältige Einflüsse bereicherte Kunst. Aus dieser Periode stammen die bedeutendsten Bauwerke der Altstadt. Kriegsbedingt geriet Tallinn unter verschiedene Herrschaften. Mal waren es die Schweden, dann die Russen. Nach dem 1. Weltkrieg gab es von 1918 bis 1940 eine erste kurze Unabhängigkeit. Die deutsche Wehrmacht marschierte 1941 in die Stadt ein. Als sie 1944 diese wieder verließ, waren etwa die Hälfte aller Wohnhäuser zerstört. Der Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg brachte den Zuzug einer erheblichen Anzahl von Russen mit sich.
Tallinn war das Zentrum der estnischen Unabhängigkeitsbewegung. Das Sängerfest von 1988 mit über 25.000 Teilnehmern war eine Demonstration des Selbstbestimmungswillens, der dazu führte, dass Tallinn seit 1991 wieder Hauptstadt der Republik Estland ist.
Auf Anraten unserer Reiseführerinnen gehen wir zum Abendessen ins Restaurant „Peppersack" oder die „Oude Hanse". Es gibt lebendiges Mittelalter in Form von Ausstattung, Musik und hübscher Bekleidung der Bedienung. Das Essen entspricht heutigem estnischen Standart. Da es doch ein anstrengender, langer Tag war, geht's auch bald zurück ins fußläufig gut erreichbare Hotel (immer die Pieck entlang, an der dicken Margarethe links ab).
Ilona und Harald Benthin
Besuch des Jüdischen Gymnasiums in Tallinn
Nach einem herzhaftem Frühstück im Hotel und guter Stimmung in Erwartung der Dinge des 2. Reisetages ging es mit dem Bus zum „Jüdischen Gymnasium" in der Nähe des Hafens. Durch eine schmale Eingangstür betraten wir ein unauffälliges mehrstöckiges Gebäude und wurden mit den Worten „Good morning, please come with me!" in die Aula im 1. Stock geführt. An der Stirnwand stand die Zahl 5765 für den jüdischen Kalender.
Der Schulleiter war nach anfänglicher Zurückhaltung bemüht, uns einen kurzen Abriss der Schule zu vermitteln und stellte sich anschließend unseren Fragen.
Die Schule wurde im Jahre 1924 von der jüdischen Gemeinde zu Tallinn, die damals 3000 Mitglieder besaß, gegründet. Als Gymnasium der jüdischen Gemeinde existierte die Schule bis zum Jahr 1940, in dem als Folge des Hitler-Stalin-Paktes die baltischen Staaten von der Sowjetunion besetzt wurden. Unter den Sowjets wurde das jüdische Gymnasium in eine Berufs- und Seemannsschule umgewandelt. Diese Funktion wurde auch zur Zeit der faschistischen Besetzung beibehalten und nach der Befreiung 1944 - „als die Befreier gleich blieben" - bis zur Unabhängigkeit 1990 so fortgesetzt.
Seit 1990 ist diese Schule wieder „Jüdisches Gymnasium" mit z. Zt. 211 Schüler(innen). Sie ist das einzige jüdisches Gymnasium in Estland und umfaßt die Klassen 1-12, wobei die Klassen 10-12 zum Abitur führen.
80% der estnischen Abiturienten studieren, davon etwa 50% mit Stipendium. Nach der Grundschule wechselt man aufs Technikum oder aufs College, wenn man kein Abitur machen will.
Bei dem „Jüdischen Gymnasium" handelt es sich um eine staatliche Schule mit etwa 45% jüdischen Lehrern. Für alle Lehrer gibt es zusätzliche Pflichtseminare in Israel. Es ist eine allgemeine Schule mit speziellen Fächern wie jüdischer Geschichte, jüdischer Kultur und Musik, sowie jüdischer Sprache. Die Unterrichtssprache ist russisch; daneben wird hebräisch, englisch und estnisch gelehrt. Unter der sowjetischen Besatzung wurde 40 Jahre lang nur russisch zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten gesprochen, so daß heute noch viele Menschen nur die russische Sprache beherrschen.
Nicht alle Schüler sind jüdischen Glaubens. Die Schule ist für Kinder aller Konfessionen und für konfessionslose Kinder offen, vorausgesetzt, sie sind für den Besuch dieser Schule geeignet.
Die geringe Größe der Schule mit kleinen Klassen und der gute Ruf veranlassen nichtjüdische Eltern, ihre Kinder auf diese Schule zu schicken. Die Teilnahme an den jüdischen Fächern ist verbindlich. Es wird kein Schulgeld erhoben, jedoch gibt es speziellen Unterricht wie etwa „Englisch ab der 2. Klasse", „Jura" oder „Wirtschaft", der besonders bezahlt werden muß.
Neben den allgemeinen Feiertagen in Estland werden die wichtigsten jüdischen Feiertage gefeiert, so daß zum Erreichen der vorgeschriebenen 175 Schultage häufig vor- und nachgearbeitet werden muß.
Voller Stolz führte uns der Schulleiter durch die verschiedenen Klassen. Große Teile der Schule waren frisch renoviert - teilweise mit Stiftungsmitteln aus den USA. Sein besonderer Stolz galt dem neuinstallierten Computerraum sowie der Bibliothek.
Immer wieder trafen uns die fragenden Blicke der Schüler. Wenn dann bekannt wurde, daß wir aus Deutschland kamen, war - soweit in der kurzen Zeit möglich -das Interesse mit Fragen groß.
Die Schule pflegt Austauschprojekte mit Schulen in Israel, den skandinavischen Ländern und Großbritannien.
Anschließend wurde uns durch den Direktor noch ein Besuch der einzigen Synagoge Tallinns vermittelt. Sie befindet sich direkt neben der Schule in der 1. Etage. Die Jüdische Gemeinde besteht heute wieder aus ca 2000 Mitgliedern, wovon ein erheblicher Anteil aus Rußland, Weißrußland und der Ukraine eingewandert ist.
Der Gemeinde steht seit 3 Jahren ein neuer Rabbi aus Israel vor und es wird der Neubau einer Synagoge mit Begegnungszentrum neben dem jetzigen Gebäude geplant. Nach den Aussagen des Rabbis ist der Antisemitismus in Estland z. Zt. wohl kein Problem. Im ganzen Land existiert jedoch keine weitere jüdische Gemeinde. Es ergab sich ein angeregter Austausch mit zwei gut deutsch sprechenden Gemeindemitgliedern. Trotz ihres durch die faschistischen Besatzer zum Teil auch persönlich erlittenen Leides waren wir alle von der großen Herzlichkeit und Zuneigung berührt.
Estland als das kleinste der drei baltischen Staaten hat etwa 1,5 Millionen Einwohner, die zu mehr als 2/3 auf die Städte (Tallinn ca. 500 000 Einwohner) konzentriert sind. Knapp 45 % sind russischer Staatsangehörigkeit und besitzen kein Wahlrecht. Mit der Aufnahme in die NATO 2003 und in die EU 2004 hat sich für die estnischen Einwohner ein deutlicher Gewinn an Sicherheit ergeben. Die Nähe zu Finnland war immer ein Fenster zum Westen, weil die Sprachen sehr ähnlich und gegenseitig verständlich sind. Wirtschaftlich sind neben dem Fischfang und der Holzwirtschaft vor allem der Abbau der begrenzten Bodenschätze (Ölschiefer) sowie hauptsächlich der sich entwickelnde Tourismus von Bedeutung.
Wort des 1. Reiseabschnitts:
„Wie kann ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht gehört habe, was ich sage."
M. u. W. Zunker
Klooga
Unser Besuch in „Klooga“ – einem Außenlager des KZ Vaivara in Estland am Montag, dem 18.10.2004
Unsere Fahrt nach „Klooga“ ist im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Besetzung Estlands zu sehen, die die Ermordung vieler Juden und Jüdinnen, ebenfalls russischer Gefangener und politischer Häftlinge zur Folge hatte. Wir wollten uns vor Ort daran erinnern und gedenken.
Während der Busfahrt dorthin war unserer Gruppe die Möglichkeit gegeben, eine Mittagspause einzulegen und auch die Informationen des Vormittags im jüdischen Gymnasium in Tallin zu verarbeiten.
Die meisten Konzentrationslager der Nazis wurden außerhalb der Städte angelegt („Geheime Kommandosache“ oder/und Angst vor Entdeckung). Deswegen waren die Wälder im Baltikum nahe der Ostsee dafür prädestiniert. So erlebten wir denn auch „Klooga“ mit seinem inhaltlichen Schrecken in einer inzwischen naturgeschützten bewaldeten Landschaft in der Nähe des Ostseestrandes von Estland.
Unser Bus fuhr einen sehr langen Waldweg bis zu einem Bachlauf, den wir nicht überqueren konnten, so dass wir weiter zu Fuß zu den zwei Gedenkstätten gingen. Die dicht beieinanderliegenden Denkmäler wurden von den jüdischen Gemeinden in Estland und der russischen Besatzungsmacht nach 1944 zu Ehren ihrer ermordeten Landsleute - mit hebräisch-jiddischen und russischen Gedenktexten versehen - aufgestellt.
Woran sollte vor Ort erinnert werden? (Geschichtlicher Hntergrund):
Ich beziehe mich auf Ausführungen im Presseorgan „Der Sozialdemo- kratische Kämpfer“ (Österreich) Nr. 10-11-12/2001 `Spuren der NS-Gewalt im Baltikum`: „Das KZ Vaivara wurde im September 1943 als Aufnahme- und Durchgangslager für Frauen und Männer eröffnet. Diesem Konzentrationslager unterstanden 27 Nebenlager (u.a. Klooga), wovon 7 bereits seit 1941 als `Zwangsarbeitslager für Juden und Jüdinnen` bestanden. Die Häftlinge des KZ Vaivara und seiner Außenkommandos wurden, nachdem die von der SS als arbeitsunfähig eingestuften Leidensgenossen ermordet worden waren, für schwere Außenarbeiten eingesetzt.
Ungefähr 20 000 Gefangene durchgingen das KZ, wobei die meisten von ihnen aus den Ghettolagern Vilna und Kaunas (Kowno) hierher verlegt wurden.
Über die Zahl und das Schicksal der Kinder, die ebenfalls nach Vaivara oder in die Außenlager deportiert wurden, fehlen jegliche Informationen.
In dem zum KZ Vaivara gehörenden Außenkommando Klooga wurden im Oktober 1944 kurz vor Eintreffen der Roten Armee 1500 jüdische Frauen und Männer aus Vilna und Kaunas, 800 sowjetische Kriegsgefangene und 700 politische Gefangene aus Estland von der SS erschossen und auf Scheiterhaufen verbrannt. 85 Häftlinge überlebten dieses Massaker. Die überwiegende Zahl der noch lebenden Gefangenen des KZ Vaivara wurden beim Herannahen der Roten Armee in die Konzentrationslager Stutthof und Auschwitz verschleppt. Die wenigen in Vaivara verbliebenen Häftlinge wurden am 28. Juni 1944 durch die Rote
Armee befreit. Trotz des Umfangs der SS Gräueltaten finden sich in Estland nur spärliche Spuren dieser traurigen Vergangenheit. ...
Angestellte Recherchen über das KZ Vaivara blieben ohne Erfolg.“
Am jüdischen Mahnmal legte unsere Gruppe ein Blumengesteck nieder.
Nach den Worten von Paul Dieter Süßer schwiegen wir einige Minuten und gingen nachdenklich und betroffen zu unserem Bus zurück.
Während der Rückfahrt nach Tallin entlang des schönen Ostseestrandes dachte ich über das morgendliche Gespräch mit Rafail Belchikov in der Talliner Synagoge über Schuld und Versöhnung nach. Dieser alte und weise Jude, der, wie er sagte, als Soldat mit der Roten Armee in Berlin einmarschiert und die Reichskanzlei erobert hatte, gab uns Folgendes sinngemäß mit auf dem Weg, worüber ich noch lange nachzudenken habe:
„Es ist genug Blut geflossen, um noch weiterhin über Schuld und Versöhnung zu sprechen. Ich bin glücklich darüber, dass Ihr mich hier als Brüder und Schwestern besucht habt.“
Heinz Walther
Herrschaften und Herrenhäuser
Der Tagesspruch
„Wie kann ich wissen was ich denke, wenn ich noch nicht gehört habe, was ich sagen werde“.(Sprichwort der Esten, das die nationale Fähigkeit des Schnellsprechens beschreibt. Zitiert nach Annelie, der Reiseführerin dieses Tages).
Die Tagesaufgabe
Hören – sehen - staunen – fotografieren - Kurz: Tourist sein.
Die Fortbewegungsart
Hauptsächlich auf Busrädern. Ab und an auf eigenen Füßen.
Die Ausrüstung
Regenschirm, Kapuze und Handschuhe (wären schön gewesen hatten aber nur die „Zur Sicherheit nehme ich das mal mit“ Ausrüstungsprofis).
Die Route
Start in Tallinn. Wir passieren Blumenmarkt und neues Einkaufszentrum, fahren durch ein tristes Vorstadtviertel und holpern über die das alte Kopfsteinpflaster im sich anschließenden Vorort Katharinental. Fahren vorbei an malerischen alten Holzhäusern in verwunschenen Gärten und halten an der Sängerwiese.
Die Sängerwiese ist eine sorgfältig gepflegte Rasenfläche an einem Hügel, an dessen Ende ein Pavillon zu erkennen ist. Unbeeindruckt vom Nieselregen (und höchstwahrscheinlich mit nassen kalten Füßen) sitzt am Rande der Wiese die Bronze -Gestalt des estnische Volksschriftsteller Voldemar Jannsen (1761-1819).
Seit 1869 strömen hier alle fünf Jahre hunderte von Chören und tausende Zuhörer (1990, ein Jahr vor des estnischen Unabhängigkeit waren es 300 000!), meist in alten Trachten, aus dem ganzen Land zusammen und singen estnische Volkslieder. Diese Wiese scheint für die Esten eine ganz besondere Bedeutung zu haben, was sich jetzt aber nicht ganz erschließt. Wir vertrauen auf unseren Tagesspruch und warten ab, was der Tag noch bringen wird.
Entlang der Tallinner Bucht gelangen wir jetzt in eine „bessere Leute Gegend“. Wir werfen einen Blick auf die Sommerresidenz von Zar Peter I (1689-1725) und lassen die Botschaften des Vatikans und Chinas einfach rechts liegen. Gleich darauf befinden wir uns in einer sozialistischen Plattenbausiedlung (die natürlich nicht mehr an der Bucht liegt) und landen auf einer entsprechenden Schnellstraße (mindestens so trostlos wie die Plattenbausiedlung), die uns in Richtung Rakvere führt. Schnell ein Blick aus dem Bus auf 3000 Jahre alte Steinkistengräber (auch damals wurde also schon gestorben…) und dann ein Stopp an der „Kleinen Schänke“, dem einzigen Gasthaus weit und breit. Die flache sandige Landschaft, durch die wir weiterfahren, hat alle Kriege gesehen, die jemals in Estland geführt wurden. Die Gegend schient wenig besiedelt zu sein. Buchenwälder (nicht so hoch und so dicht wie bei uns) wechseln sich mit Birkenhainen ab. Dazwischen Sand- und Moorflächen durchzogen mit Heide (sagt Annelie) und sonstigen genügsamen Sträuchern.
In Rakvere parken wir vor dem Herrenhaus (nennt sich so – sieht nicht mehr so aus) der Familie von Thyssenhausen, treffen danach auf einen imposanten Wisent (ungefährlich, da nur aus Gusseisen), dem Wahrzeichen der größten Stadt (Für die Statistiker: 17 065 Einwohner) der Region und landen vor den Toren der Ruine einer Ordensburg. Hier hauste einst ein geistlicher Ritterorden (1252), der sich, je nachdem, gegen Bischoff oder König zu wehren hatte. Wir umrunden die Ruine und werfen von der Anhöhe einen Blick über den Burgwall auf das im Dunst liegende Rakvere. Die Ritter (und das was aus dem 13. Jhd. von ihnen übrig geblieben ist) lassen wir hinter uns und wechseln die Richtung und die Zeit, hin zu herrschaftlichen Gutshäusern deutscher Großgrundbesitzer aus dem 18. Jhd. Bei der Enteignung der Großgrundbesitzer durch die russische Besatzungsmacht (1919), gab es in Estland 840 Güter. Zu einem Herrensitz gehörten nicht selten mehr als 20 Dörfer mit ca. 1500 Hektar (15 000 km2). Die gut erhaltenen Gutshäuser in Sagadi und Palmse werden wir besuchen.
Unterwegs stoßen wir aber erst einmal in Haljala sowohl auf Spuren von Rittern als auch auf die von Herren. Auf dem Friedhof der Wehrkirche (14.Jhd.), die einst als Vorposten der Ordensburg diente, zeugen die Grabsteinen, auf denen, außer den Namen der Pfarrer, fast nur „hochherrschaftliche“ deutsche Namen stehen, von den ehemaligen Grundherren.
Dort, wo deutsche Feudalherren herrschten, hat heute – zumindest in dem ehemaligen Gebiet der Herrenhäuser in Sagadi und Palmse - Flora, Fauna das Zepter übernommen. Rund um die Gutshäuser befindet sich jetzt der Lahemaa-Nationalpark. Die ursprüngliche Landschaft, die wir durchqueren, lässt sich vom Bus aus mehr erahnen als erleben. Dafür umrunden wir das Herrenhaus in Sagadi und in Palmse gehen wir rein. Wir erleben den Wohnstil einer ländlichen Oberschicht des 18. und 19. Jahrhunderts: Das Haus von einem Star-Architekten gebaut. Der Garten ist ein Park und das Esszimmer ist ein kleiner Saal. Was Leibeigenschaft bedeutet, die diese Großzügigkeit ermöglichte, das lässt sich hier nicht erfahren. Mit Glück hätten die meisten von uns zu der Zeit eventuell in der Küche arbeiten dürfen oder wir wären Schweinehirten gewesen…
Auf der Fahrt zurück nach Tallinn gehen mir solche Gedanken durch den Kopf. Liegt es an den Eindrücken aus dem Herrenhaus oder an dem nasskalten niedrigen grauen Himmel? Egal – ich schlafe ein, wie die meisten im Bus.
Eindrücke
Die Fahrt durch Tallinn und seine Vororte erscheint wie eine Fahrt durch die gesellschaftlichen Klassen Estlands: Arbeiter in tristen Vorstädten, Bürgertum in ererbten Holzhäusern, das schicke Viertel an der Tallinner Bucht mit Diplomaten und reichen Menschen und schließlich die Plattenbausiedlungen mit Eigentumswohnungen und aufstrebenden Handwerkern und Bildungsbürgern.
Die Landschaft ist flach und menschenleer und erinnert „irgendwie“ an die Lüneburger Heide. Hier gibt es noch Bären, Wölfe und Elche, die wir aber nicht zu Gesicht bekommen.
Der Touristentag entpuppt sich als ein Tag der deutschen Geschichte des 13. - 19:Jahrhundert. Der Deutscher Orden, der Städtebund der Hanse (Rakvere war, wie alle estnischen Städte, eine Hansestadt) und schließlich die Großgrundbesitzer. Es ist eine Geschichte in der es in erster Linie um Herrschaft geht, die mit Hilfe des Schwertes, mit Geld oder Frondiensten durchgesetzt wird.
Auf dem Hintergrund einer ständigen Besetzung des Landes durch unterschiedliche Nachbarstaten zu unterschiedlichen Zeiten und über Jahrhunderte, wird die Bedeutung der Sängerwiese in Tallinn, die wir am Morgen des Tages besucht haben, jetzt deutlich. Die Lieder des Sängerfestes verkörpern die estnische Identität, sie gaben Orientierung, sie grenzten die Machthaber aus. Die Machthaber wechselten, aber die Lieder blieben.
Buchtipp
Für diejenigen, die alles genau wisse wollen:
Meissner, Boris u.a.: Die deutsche Volksgruppe in Estland, Hamburg 1977.
Verlag: Bibliotheca Baltica, Hamburg, ISBN 9985-800-14-1
Nachwort
Nachdem wir jetzt alles gesagt haben, wissen wir, was wir über diesen Tag denken:
Unser Horizont ist heute weiter geworden, obwohl der Himmel sehr tief hing.
Von Tallin nach Riga
Nach Verladen der Koffer verließen wir Tallin und fuhren gen Riga. Zunächst machten wir eine Trink- und Toilettenpause in der Kleinstadt Pärnu mit ihren hübschen, vorwiegend gelb gestrichenen Holzhäuschen. Die Grenze nach Lettland passierten wir gegen 12 Uhr.
In Saulkrasti verließen wir die an der Ostsee entlangführende A 1 und bogen ab ins Landesinnere, wo wir in Ragana (= Hexe) von 13.30 Uhr bis 14.20 Uhr die Mittagspause in einem netten Restaurant verbrachten. Bald danach kamen wir in den 920 km2 großen Gauja-Nationalpark mit dem Städtchen Sigulda.
Als wir die Brücke über den Fluss Gauja querten, konnten wir uns laut unserer Reiseführerin etwas wünschen, was auch in Erfüllung gehen sollte - mal abwarten. An der Kirche von Sigulda ' vorbei kamen wir zum „Neuen Schloss", das 1936 in ein Erholungsheim für Schriftsteller und Journalisten umgewandelt worden war; nun ist dort der Rat der Stadt Sigulda untergebracht. Hinter dem Schloss gingen wir durch den mächtigen Torturm in die innere Vorburg der ansonsten weitgehend zerstörten Ordensburg.
Zurückgekehrt in das Tal der Gauja besuchten wir die Gutmannshöhle, die von einer Quelle mit wundertätigem Wasser durchflossen wird. Als sich einige aus der Gruppe Flaschen mit diesem Wasser abfüllten, fiel die Bemerkung: „Da hilft wohl nur ein Vollbad!" Neugierig studierten wir die Einritzungen und Wandsprüche an den Höhlenwänden, die bis ins 17. Jahrhundert zurückgingen. Über diese Höhle gibt es folgende Legende: „Maija, die Pflegetochter des Burgschreibers von Turaida, war mit Viktor Heils, dem Schlossgärtner von Sigulda verlobt, mit dem sie sich immer in der Gutmannshöhle traf. Auch der polnische Soldat Pan Jakubowsky begehrte sie und lockte sie mit einer falschen Botschaft in die Höhle. Maija verweigerte sich ihm und schlang sich ein Tuch um den Leib, das ihr Viktor geschenkt hatte und von dem sie behauptete, es mache sie unverwundbar - doch der abergläubige Jakubowsky erschlug sie mit seinem Schwert." Nun soll Maija, die „Rose von Turaida", nahe einer Linde in dem Museumsreservat von Turaida begraben sein. Nicht weit von dieser Linde besuchten wir die Bischofsburg und bestiegen den Bergfried, von dem wir eine herrliche Aussicht genießen konnten. Nach einem Rundgang durch den Park mit seinen vielfältigen, von Künstlern geschaffenen Skulpturen beschlossen wir, direkt nach Riga zu fahren und nicht mehr die Stadt Cesis (Wenden) zu besuchen, da sich der von einem Bandscheibenvorfall geplagte Herbert Beck dringend in ärztliche Behandlung begeben musste.
Nach einer einstündigen Fahrt erreichten wir um 18.30 Uhr Riga, die schöne Hauptstadt Lettlands. Sascha, unser russischer Busfahrer, versuchte, uns so nah wie möglich an das mitten in der Altstadt Rigas gelegene Hotel „Konventhof" zu bringen. Er musste jedoch an den Schranken, die den Bereich der Altstadt abriegeln, kapitulieren, so dass wir schließlich unsere Koffer über das Kopfsteinpflaster an der Petrikirche vorbei schleppen oder ziehen mussten - unserer guten Laune tat dies aber keinen Abbruch.
Abends gingen wir in Kleingruppen nach einiger Suche in das uns genehme oder vom Reiseführer Merian empfohlene Restaurant — wir hatten alle einen ersten schönen Abend in Riga.
Heidi und Siegfried Manske
Riga
Nach der ersten Nacht in Riga und einem reichhaltigem Frühstücksbüffet (neben Hering usw. gab es auch ein leckeres Müsli!) erwartete uns um 9 Uhr Anda, unsere lettische Stadtführerin. Sie wurde bald schon „Anda rabiata" genannt, denn sie ging mit recht energischem Schritt voran nach der Devise „Wer nicht mitkommt, muss sehen, wo er bleibt!" und duldete keinen Widerspruch. Wie alle anderen Reisefuhrerinnen sprach auch Anda ein ganz ausgezeichnetes Deutsch.
Mit Anda machten wir eine kombinierte Bus- und Zu-Fuß-Stadtführung, gut eingepackt in Schals und Mützen durch ein herbstlich-kühles Riga. Aber es regnete nicht.
Unser Hotel Konventa Seta befand sich mitten in der Altstadt und wurde mit Mitteln der Partnerstadt Bremen gebaut. Diese Partnerschaft besteht seit 1981 und funktionierte immer sehr gut. Nach der Wende finanzierten die Bremer dann im historischen, aber damals völlig heruntergekommenen Konventa Seta - Viertel den Bau dieses ökologischen Hotels in mehreren nebeneinander liegenden historischen Gebäuden.
Im Johanni-Hof mit Blick auf die Johannis-Kirche und die Petri-Kirche (erstmals erwähnt 1209, höchster Turm der Stadt, im Laufe der Jahrhunderte mehrfach zerstört und immer wieder aufgebaut) gab uns Anda einen ausführlichen Abriss über die Geschichte der Stadt: heute 745.000 Einwohner, gegründet 1201, während der Blüte der Hansezeit eine der reichsten Städte der Hanse; im 2. Weltkrieg zu einem Drittel zerstört; wieder aufgebaut wurde das historische Zentrum 1997 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Weiter ging es zum Rathausplatz mit der Rolandstatue und dem Schwarzhäupterhaus (Zunfthaus der unverheirateten auswärtigen Kaufleute, holländ. Renaissancestil, im 2. Weltkrieg vollständig zerstört, zum 800-jähr. Stadtjubiläum 2001 wieder hergestellt, genauso wie das klassizistische Rathaus gegenüber).
Wir fuhren weiter mit dem Bus an der Düna entlang. Anda erzählte und erklärte. Gespräche im hinteren Teil des Busses wurden gestoppt mit der scharfen Frage: „Störe ich Euch?" -
„Neiiin!" - „Aber Ihr stört mich!!"
Wir erfuhren, dass Riga keinen bedeutenden Passagierhafen hat wie z.B. Tallin, wir sahen aber Schiffe im Industrie- und Handelshafen.
Bald erreichten wir das Viertel mit den prachtvollen Jugendstilhäusern, die während des Baubooms in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg entstanden. Damals wuchs die Stadt so schnell, dass neue Wohnviertel nötig waren und mehr als 800 Häuser in schönstem Jugendstil gebaut wurden. In der Elisabeth-, Albert-, und Schützenstraße und in den Nebenstraßen bewunderten wir die Fassaden der Häuser, u.a. von Michael Eisenstein.
Mit dem Bus fuhren wir zurück zur Altstadt, vorbei an weiten Parkanlagen (früherer
Stadtgraben, zugeschüttet), wunderschön mit den herbstlichen Farben. Wir sahen die Deutsche Botschaft, kamen am Bahnhof vorbei und an den Hallen des Zentralmarktes. Riga hat ca. 30 Markthallen und unzählige Plätze mit Marktbetrieb.
Die Innenstadt ist komplett durch Schranken für Autos gesperrt. Das erlaubt entspannte Spaziergänge: vom Ordensschloss (heute befindet sich darin ein Museum) vorbei an der Maria-Madgalena- Kirche und an der Jakobi-Kirche (1225 erbaut, protestantisch, heute größte kath. Kirche, einziger rein gotischer Kirchturm der Stadt) zum Domplatz (hier pfiff der kalte Wind besonders, Dom z. Zt. geschlossen), vorbei an den „Drei Brüdern" (Name in Anlehnung an die ,,Drei Schwestern" in Tallin, hier erbaut zu unterschiedlichen Zeiten, älteste erhaltene Wohnhäuser von einfachen Bürgern, das rechte Haus mit gotischem Stufengiebel aus dem 15. Jahrhundert). . .
Vereinzelt nähren dann doch mal Autos, aber Anda meinte: „ Hier ist Fußgängerzone. Wenn Sie überfahren werden, haben Sie die Beruhigung, dass Sie Recht hatten!" Anda rührte uns an unzähligen bemerkenswerten Bauten im Eilschritt vorbei und immer hieß es dann: „Das können Sie in Ihrer freien Zeit besuchen!"
Unser Spaziergang endete am Platz der Gilde vor den Gebäuden der Großen und der Kleinen Gilde Gegenüber steht das sog. Katzenhaus. Ein reicher jüdischer Kaufmann mit Namen Otto Katz dem die Aufnahme in die Gilde verweigert worden war, platzierte eine Katze auf dem Turm, wobei die Katze dem Gildehaus das Hinterteil zukehrte, eine Ungeheuerlichkeit. Es gab einen jahrelangen Prozess, er musste die Katze umdrehen.
Hier bekam dann der liebe Heinz Walther noch eins drüber. Auf eine Nachfrage von ihm der scharfe Satz von Anda: „Sie quatschen hinter meinem Rücken und ich muss alles wiederholen! Anda bleibt unvergessen!
An diesem Tag waren Dagmar und Herbert Beck schon nicht mehr dabei. Wir bedauerten das immer wieder und wünschten natürlich insbesondere Herbert gute Besserung. Beide flogen noch an diesem Tag zurück, nachdem Herbert im Krankenhaus auf Bandscheibenvorfall untersucht worden war.
Nach dem Besuch der Synagoge und des jüdischen Museums (s.u.) hatten wir Freizeit, d.h. Zeit um - natürlich ganz im Sinne von Anda - all die Eindrücke zu vertiefen. Wie immer fanden sich kleinere Gruppen, um dann z.B. die großen Markthallen zu besuchen, das Angebot an Gemüse, Fleisch, Fisch, Brot, Gewürzen usw. war reichhaltig.
In den großen Einkaufsstraßen sahen wir die elegantesten Läden mit westlichen Modemarken und fragten uns, wer kann das kaufen bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 200 Lats.
Ein Höhepunkt war sicherlich auch ein Kaffee oder ein Riga-Balsam im 26. Stockwerk des Hotel Latvija mit einer unbeschreiblichen Aussicht auf die Dächer, Kuppeln und Turme und die herbstlich bunt gefärbten Grünanlagen der Stadt. Eine wahrlich schöne Stadt!
Maren Schmidt
Synagoge Riga
„Haben sie gleich gelaufen sagen, dass Juden"
Nach der morgendlichen Stadtführung durch Riga besuchten wir die jüdische Synagoge. Zu ihrem Schutz ist vor dem Eingang eine Art Wohnwagen der Polizei dauerhaft installiert. Sie stammt von 1904 und ist die einzige in Riga erhaltene Synagoge. Der große schlichte Raum ist gut erhalten und lässt daher die typische Synagoge von früher erkennen, lediglich die Bänke sind neu. Vermutlich hatte sich nach dem Einmarsch der Nazis ein ev. Pastor für den Erhalt des Hauses eingesetzt, das dann auch als Pferdestall genutzt wurde. Die Thora-Rollen blieben erhalten, sie waren hinter einer Bretterwand versteckt. An der Eingangswand erinnert eine Tafel mit 56 beleuchteten Messingplättchen an die jüd. Gemeinden Lettlands, die völlig vernichtet wurden. Die Sicherheitskräfte vor dem Haus sind postiert, da es bereits zwei Anschläge gab.
Die auf Russisch gegebenen Erläuterungen von Hermann Lewin wurden uns übersetzt. Die jüd. Gemeinde ist etwa 500 Jahre alt und geht auf dt. Ursprünge zurück. Zuzug gab es Ende des 19. Jh. aus anderen Orten Lettlands und aus Weißrussland. Von den 1940 hier ansässigen Juden sind nur mehr ganz wenige hier, etwa 95% sind neu. Der Rabbiner vertritt die hier übliche „Litauische Richtung". Die chassidische oder Chabbat-Richtung (?) hielt früher ihre Gottesdienste im Tiefgeschoss ab, heute finden diese zusammen statt. Der aus Stettin stammende Vater Hermann Lewins studierte 1940 in Paris, kam quer durch Europa zurück und wurde Soldat. Die Mutter wurde als höhere Beamtin, begleitet von Mutter und Schwester, vor den anrückenden Deutschen nach Sibirien evakuiert. Die übrige Familie überlebte nicht.
In Lettland leben heute ca. 10 000 Juden. Die meisten sind in Riga beheimatet, wo es mehrere Gemeinden gibt. Die eigene Gemeinde hat ca. 150 Mitglieder, zum Gottesdienst am Sabbat kommen 50. Hier arbeiten zwei Rabbiner, die jeweils auch noch andere Gemeinden mit versorgen. Sie sind zugleich „Banker" mit Blick auf mögliche Spendeneinnahmen. Sie wurden in Israel und den USA ausgebildet und auf der europ. Rabbinerkonferenz vertreten. Unser Gastgeber selbst stammt aus dem ukrainischen Odessa und wurde von der hiesigen Gemeinde bestellt. Die Jungen machen heute ca. 50% der jüd. Bevölkerung aus, kommen aber meist aus den anderen Gemeinden Rigas.
In Lettland lebten 1940/41 ca. 100 000 Juden, davon wurden 12 000 evakuiert. 120 von ihnen kamen nach dem Krieg nach Riga zurück. Bei Riga wurden aber auch viele Juden aus anderen Ländern ermordet. In der Sowjetgesellschaft war der Druck auf die Juden so stark, dass viele Junge schon aus Protest den Weg zurück zum Judentum fanden.
In Riga gibt es zwei jüdische Schulen. Die eine ist öffentlich-kostenlos-säkular und nimmt auch Nicht-Juden auf. Der Unterricht erfolgt auf Russisch, auch Jiddisch, dazu drei mögliche Fremdsprachen. Die andere Schule ist privat-gebührenpflichtig-konfessionell (nur Juden nach dem Gesetz), die Unterrichtssprache ist Russisch, danach aber auch Hebräisch.
Als überlebender Zeitzeuge berichtete eindringlich - auf Jiddisch und Deutsch - Boruch Stei(n)mann. Er ging damals als 18-Jähriger in die Rote Armee und überstand trotz einer Verwundung die Belagerung von Leningrad (wo eine große waffentechnische Überlegenheit der dt. Armee bestanden habe). Er berichtete von seinen lettischen Landsleuten, dass sie Juden sofort denunziert hätten: „haben sie gleich gelaufen sagen, dass [wir] Juden [sind]".
Bernhard Schmidt
Museum „Juden in Lettland"
Im jüdischen Museum wurde die Gruppe empfangen und geführt von Margers Westermannes, dem Leiter des Hauses. Er hat selbst die Judenvernichtung in Lettland überlebt und die Einrichtung des Museums sichtlich zu seinem Lebenswerk gemacht.
Das Museum bzw. Dokumentationszentrum „Juden in Lettland" wurde im Jahr 1996 eröffnet, nach Vorarbeiten ab 1990. Dabei erhielt es Unterstützung aus Deutschland u.a. von der „taz" und dem Grünen-Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei, später auch von der Bosch-Stiftung.
Es ist untergebracht in der 2. Etage des Gebäudes, dem ehem. jüdischen Theater, wo vor 1940 auf Jiddisch gespielt wurde. Später beherbergte das Gebäude ein sowjetisches „Volkstheater", den Einsatzstab des Reichsleiters Alfred Rosenberg (ein Balte aus Estland), nach 1945 die Kommunistische Partei, nach 1990 das „Lettische Volkserwachen" und heute die „Jüdische nationale Kulturvereinigung". Im Gebäude befinden sich nunmehr auch jüdische Sozial-, Kultur- und Gesundheitseinrichtungen. Der erste der drei bereits eingerichteten Räume zeigt die Geschichte der Juden in Lettland bis zum 19. Jh. Gemäß der ersten russischen Volkszählung von 1897 lebten dort damals 150 000 Juden (1940 nur mehr 100 000). Das Leben auf dem Land und die Landwirtschaft war ihnen verboten. Mit dem Aufkommen zionistischer Ideen in den 80er Jahren des 19. Jh. gab es erste Auswanderungen nach Palästina. Dem gegenüber zogen Sozialismus und „Jüdischer Bund" in Ost-Lettland viele Arbeiter an. Viele große jüdische Intellektuelle von Lettland aus wirkten in alle Welt.
Der zweite Raum zeigt die Geschichte bis 1940, etwa die Verbindung lettisch-jüdischer Sozialdemokraten mit den russischen Revolutionären von 1918/20. Anlässlich der Unabhängigkeitserklärung von November 1918 versprach der „Volksrat" den Juden volle Rechte. Der lettische Befreiungskrieg wurde zunächst gegen die Rote Armee, danach gegen dt. Freikorps und das Dt. Reich geführt.
Der fensterlose dritte Raum belegt den Holocaust in Lettland: das Niederbrennen aller Synagogen am vierten Tag der dt. Okkupation, dem 4. Juli 1941 (oftmals mit darin gefangenen Menschen); die Vernichtung der Juden in den beiden Rigaer Gettos; die Massenvernichtung in den nahe gelegenen Wäldern von Rumbola und Bikernieki; das Ende im Lager Kaiserwald mit seinen 16 Nebenlagern. Der noch nicht eingerichtete vierte Raum soll Menschen gewidmet werden, die selbst unter Einsatz ihres Lebens Juden gerettet haben. Zu diesen „Judenrettern" gehört ein Hafenarbeiter, der in Riga 55 Menschen vor dem sicheren Tod bewahrte.
(Zum Museum gibt es ein kleine Informationsbroschüre auf Deutsch)
Bernhard Schmidt
Bikernieki und Rumbula
Freitag, 22.10.2004
Halbtagesexkursion zu den Erschießungsorten in den Wäldern von Bikernieki und Rumbula
Während der Fahrt nach Bikernieki erfahren wir, dass unser Zielort die größte Massener-
mordungsstätte in Lettland war. Erst vor 3 Jahren, a. 30. Nov. 2001, wurde das Mahnmal, wie wir es jetzt vorfinden, als Ort des Gedenkens und Erinnerns vom Riga-Komitee und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingeweiht.
Von Mitte August bis November 41 wurde in Riga das 1. Ghetto mit 25000 Menschen errichtet. Friedrich Jeckeln sollte hier die „Judenfrage lösen“. Die ankommenden Juden wurden zunächst selektiert; die Jüngsten und Kräftigsten kamen in das kleinste Ghetto und die zur Vernichtung bestimmten Juden mussten ins große Ghetto und dann nach Rumbula, der größten Ermordungsstätte. Hier wurden systematische Tötungen innerhalb von 10 Tagen aktionsmäßig durchgeführt. 1944 befahl Himmler die Vernichtung sämtlicher Zeugen und jeglichen Beweismaterials durch Feuer. Dieses geschah hauptsächlich durch Häftlinge des KZs Kaiserwald.
Später, während der Sowjetokkupation, sprach man nicht über den Holocaust. Die wenigen überlebenden Juden durften nicht zu ihren Gedenkstätten.
Heute gilt es die geschichtliche Wahrheit zu erfahren und ihrer zu gedenken und sich zu erinnern. Hierzu wurde in Bikernieki für die Ermordeten jeder Gemeinde, unter Mitwirkung des Letten Sergej Riz, ein Gedenkstein errichtet.
So findet unsere Gruppe den zentralen Gedenkplatz auch mit Feldern von Granitsteinen der Stadt Düsseldorf mit 1700 Deportierten – 65 Menschen aus Moers - und Krefeld mit 305 Opfern vor. Paul Süßer, Otto Laakmann und Heinz Walther lesen abwechselnd die Namen der ermordeten Moerser vor und anschließend legt jeder von uns an beliebiger Stelle seine Rose nieder.
Wir fahren weiter nach Rumbula, wo vorwiegend Juden aus Lettland den Tod fanden. Die Menschen, die bei großer Kälte vom großen Ghetto 12 km entfernt hierher laufen mussten- viele erfroren schon auf dem Weg- wurden von Einheimischen und der lettischen Polizei bewacht und, nachdem sie sich vor den Gruben aufgestellt hatten, erschossen, so dass sie direkt in ihr Grab fielen. Viele von ihnen wurden später auf dem alten Friedhof von Riga begraben.
Erleichtert hören wir den Geschichten von Überlebenden zu, wie dem 13-jährigen Jungen, der von einem Polizisten in einen Graben am Weg gestoßen wurde, als ihm schlecht wurde und er würgte oder einem Mädchen, das vor Angst in einen Graben voller Leichen fiel und dort die Kontrollen erfolgreich abwarten konnte.
Die Gedenkstätte in Rumbula wurde 2002 mit finanzieller Hilfe Lettlands, Israels, der USA, Deutschlands und privater Spender wieder hergerichtet, ist aber nicht fertig, da immer noch neue Namen hinzu kommen.
Die Steine hier tragen Familiennamen, auch die russischer Opfer. Die ersten wurden schon 1964 unter dem sowjetischen Regime von Aktivisten der Riga´s Jewish Community errichtet. Es war damals das einzige jüdische Denkmal für die Opfer des Nazi Terrors auf dem Territorium der UDSSR.
Wir gehen ein Stück des Waldweges, dem „Weg des Todes“, der uns von der zentralen Gedenkstätte zu einzelnen Grabfeldern führt, die aber heute nur Symbole sind. Sie sind mit Kantsteinen eingefasst und durch Naturstein-Stelen gekennzeichnet. Entlang des Weges stehen Betonstelen mit dem Davidsstern, dem Kreuz und dem Dornenkranz, die für die Ermordeten unterschiedlichen Glaubens und verschiedener Nationalität stehen.
Auf der Rückfahrt nach Riga passieren wir noch die „Moskauer Vorstadt“, einem jüdischen Ghetto mit 28000 Menschen, von denen lediglich 400 gerettet wurden.
Uta und Hartmut Rösler
Gespräch mit Herrn Baumanis
über die aktuelle Situation Lettlands im Jahre des EU-Beitritts 2004
Herr Baumanis war Botschafter Lettlands sowohl bei der UN als auch in Dänemark und Estland.
Er informierte uns über die wechselvolle Geschichte der Letten bis zur Unabhängigkeit im Jahre 1991.
Die Letten kamen vor ca. 2000 Jahren aus Indien in den Ostseeraum. Ihre Sprache gehört, ebenso wie Litauisch und das inzwischen ausgestorbene Preußisch zur indogermanischen Sprachfamilie.
Die Christianisierung der Letten begann im 12. Jahrhundert. Die Hauptstadt Riga gehörte zu den bedeutenden Hansestädten mit guten geschäftlichen Verbindungen nach Deutschland. Nach ca. 700 Jahren unter der Herrschaft wechselnder Großmächte wurde Lettland 1918 zum erstenmal ein unabhängiger Staat. 1940 wurde Lettland dann durch die Sowjetunion okkupiert und ca. 110.000 Menschen, vor allem Intelligenzler, wurden nach Sibirien deportiert. Viele wurden dort ermordet.
Als Deutschland 1941 Lettland besetzte, wurden die Soldaten der Wehrmacht zunächst als Befreier begrüßt. Es begannen Repressionen der Nazis gegen die Juden. Die Besetzung führte zu einer Fluchtbewegung von ca. 200.000 Letten nach Westen, vor allem in die USA, nach Kanada, Australien und Schweden. 1949 deportierte die Sowjetunion wiederum etwa 200.000 Letten nach Sibirien. Von den wenigen Überlebenden kam nur ein kleiner Teil nach der Unabhängigkeit 1991 zurück.
Ziel des sowjetischen Regimes war die Erschaffung eines neuen gemeinsamen sowjetischen Volkes ohne eigene Wurzeln oder Vergangenheit. Deshalb wurden viele Sowjetbürger, gezwungen oder freiwillig, zur Schaffung einer sowjetischen Großindustrie nach Lettland geschickt, so dass in den großen Städten die Letten nur noch eine Minorität darstellten. Die russische Sprache dominierte.
Nach der Wende 1991 stellten die Letten 50,7% der Bevölkerung, heute sind es bereits 57,6%. Außerdem leben in Lettland 30% Russen, sowie eine größere Anzahl von Weißrussen, Polen und Litauern. Der Anteil der Juden beträgt 0,4%. 1991 wurde die erste jüdische Schule in Riga gegründet, an der in 7 Sprachen unterrichtet wird.
Die ökonomische Situation Lettlands nach der Wende gestaltete sich schwierig, da neue Handelsbeziehungen erst aufgebaut werden mussten. Die Hoffnung auf viele Rückkehrer aus dem Westen erfüllte sich kaum. Seit 1993 träumte man von der Mitgliedschaft in der EU und Nato. Im April 2003 trat Lettland der Nato bei, im Mai 2004 der EU.
In diesem Jahr konnte Lettland das BSP um 7,7% steigern. Heute hat das Land eine hohe Zahl von Studenten, so dass Herr Baumanis optimistisch in die Zukunft schaut. Man hofft, in 10 bis 12 Jahren auf dem Durchschnittsniveau der EU zu sein. Die Zusammenarbeit mit dem Westen, vor allem mit Deutschland, wird vorangetrieben. Der hohe Energiepreis und die hohe Verschuldung der Bevölkerung lassen jedoch die Inflationsgefahr wachsen. Niedrige Löhne und Pensionen begünstigen die Schattenwirtschaft. Wie in vielen Ländern findet Korruption im politischen und wirtschaftlichen Leben verdeckt statt.
Jeder Einwohner Lettlands kann innerhalb von 3 Monaten lettischer Staatsbürger werden, vorausgesetzt, er lässt sich naturalisieren, erkennt die Verfassung an, ist loyal dem Staat gegenüber und beherrscht die lettische Sprache. Seit dem Beitritt zur EU ist die Anzahl der Anträge auf Einbürgerung stark gestiegen.
Regina u. Horst Simons
Berg der Kreuze, Kedainiai, Vilnius
Am Samstag (23.10.2004), früh morgens verabschiedeten wir uns von Riga. Per Bus ging es in die letzte Reiseetappe. Auf in die Hauptstadt Litauens - Vilnius!
Litauen, das kleinste der baltischen Länder, mit nur einer 100 km langen Küste, aber 750 Flüssen und circa 3000 Seen, hat 3,5 Mill. Einwohner, davon sind 80 % Litauer, 8% Russen und 9% Polen.
Das erste Ziel in Litauen war der „Berg der Kreuze".
Inmitten flacher Landschaft gelegen, ein Hügelchen mit Kreuzen und Kreuzchen überhäuft. Für meinen westlichen Geschmack eher kitschig. Meine Ohren nahmen ein zartes Klirren und Klimpern wahr. Ein Windspiel aus Kreuzen und Rosenkränzen verursachte diese merkwürdige Geräuschkulisse. Jedoch ein Ort voller Symbolik!
Nach der Zerschlagung des Aufstandes gegen den Zarismus anno 1863, stellten die Menschen aus der Umgebung Kreuze zum Gedenken an ihre dort getöteten Angehörigen auf. Auch im letzten Jahrhundert gewann dieser Ort wieder an Bedeutung, nämlich für die Opfer des stalinistischen Terrorregimes. Die Überlebenden, der nach Sibirien Verbannten stellten aus Dankbarkeit Kreuze auf.
Das zweite Ziel war die erste Begehung mit jüdischen Spuren in der Stadt Kedainiai.
In Kedainiai bestand über 400 Jahre eine jüdische Gemeinde mit allen wichtigen religiösen und weltlichen Funktionen. Am Beginn des 20. Jahrhunderts lebten über 2.500 Juden in Kedainiai. Es gab 14 Synagogen, mehrere Schulen, ein Waisenhaus, politische Gruppierungen und zwei Fußballclubs.
Die Mehrzahl der jüdischen Bürger von Kedainiai waren Handwerker oder in der Landwirtschaft tätig.
Die beiden bedeutenden sakralen Gebäude befanden sich am Judenmarkt: die kleinere Winter- und die Sommersynagoge. Beide Gebäude wurden während der deutschen Besatzung beschädigt aber nicht zerstört. Heute befindet sich in den Räumen ein multikulturelles Zentrum.
Die jüdische Gemeinde wurde im August 1941 nach dem Beginn der deutschen Okkupation Litauens vollständig zerstört. Über 2.000 Juden wurden in den ersten Besatzungstagen von Deutschen und Litauer ermordet. Die verbliebenen ca. 1000 Juden wurden bis 1943 in ein Ghetto gesperrt. Auch sie wurden dann an anderen Orten ermordet. 94 % der litauischen Juden sind im Holocaust umgekommen. Die aktive Beteiligung von Litauer an der Vernichtung jüdischen Leben war während der sowjetischen Besatzungszeit ein Tabu. Es beginnt jetzt und noch zögerlich der Versuch einer Aufarbeitung. In Kedainiai sind noch einige Spuren jüdischen Lebens erhalten - damit sie nicht verloren gehen, ringen örtlichen Historiker mit den vorhandenen Widerständen um ihre Bewahrung. Es ist offen, ob ihnen dies gelingt. Mit den Eindrücken von einer ehemals großen jüdischen Kleinstadtgemeinde, ihrem Ende und den Bemühungen um das Erinnern ging es weiter bis nach Vilnius.
Erster Abend in Vilnius
Der Abend in Vilnius wird mir unvergessen bleiben. Dem „Marco Polo" Tip folgend trafen sich ohne Verabredung ein großer Teil unserer Gruppe in den Kellerräumen eines Lokals namens „Zemaiciu Smukle". Musikanten betraten den Gastraum und fingen uns mit volksmusikalischen Klängen ein und da wir unter uns waren, folgten wir den in uns aufkommendem starken Bewegungsdrang. Die „Zeppelinchen" im Magen das Bier mit einem litauischen Prost „Is wie Kater“ schon wirksam im Blut konnte man unseren tänzerischen Darbietungen keinen Einhalt mehr gebieten und es ging im wahrsten Sinne des Wortes über Tische und Bänke. Die Barrieren wurden von jedem Tänzer mit Bravour und ohne Verletzungen genommen. Und das ist noch nicht alles - Ilona (die lebendige Mundorgel) begann mit dem Singen von deutschem Liedgut und jeder der konnte, stimmte mit ein und wir endeten Dank unserer 1. Stimme nicht mit der ersten Strophe. Ein Kanon gelang uns auch noch einigermaßen. Fröhlich und in guter Stimmung verließen wir um Mitternacht das Lokal und waren verwundert über diese spontane Gestaltung eines Abends.
Jutta Thomas
Rainer Hagenacker
Besuch der Kenesa
und Gespräch mit einem Mitglied der karätischen Gemeinde
An diesem Morgen wollten wir uns über eine Volksgruppe informieren, die in Litauen lebt.
Mit dem Begriff Karäer wird eine im 8. Jahrhundert entstandene jüdische Religionsgemeinschaft bezeichnet, die den Talmud und die mündlichen Überlieferungen des rabbinischen Judentums ablehnt. Unter anderem weicht ihr Kalender vom Kalender des übrigen Judentums ab. Die Karäer leben strikt nach der geschriebenen Thora = Fünf Bücher Moses und interpretieren auch alle der 613 Gebote der Thora ausschließlich aus der Thora selbst. Eine talmudische Tradition oder ein daraus entstehendes Dogma lehnen sie ab.
Kleine Gruppen von Karäern gibt es heute noch in Polen, der Ukraine, Litauen sowie in Frankreich, Australien und Nordamerika. In Israel leben etwa 25.000 Karäer (2002), dort werden sie als nichtreligiöse Juden eingestuft. Außerhalb Israels wird die Zahl der Karäer auf 20.000 geschätzt.
Aufgrund ihrer ethnischen und religiösen Besonderheit wurden sie während der deutschen Besetzung als tatarische Volksgruppe eingestuft und wurden daher von der Verfolgung ausgenommen. Die karaimische Sprache ist eine Turksprache.
Nach einem kurzen Fußweg vom Hotel wurden wir von Frau Karina Firkaviciute begrüßt. Sie führte uns in ihre Kanesa, ein für liturgische Messen vorgesehenes Gebäude, eingeweiht im Jahre 1923. Es gibt in Litauen noch nur noch zwei Gebäude dieser Art. Zur Zeit der sowjetischen Besetzung war das Gotteshaus geöffnet, aber man traute sich nicht, das Haus zu benutzen. Trauungen usw. fanden im privatem Rahmen statt. Nach der politischen Wende wurde das Gebäude wieder der Gemeinde zugeführt. Die Kirche ist nach Süden ausgerichtet. Der Innenraum ist hell. Links und rechts des Mittelganges befindet sich das Kirchengestühl. Am Ende des Mittelganges steht ein Altar. Während eines Gottesdienstes befinden sich die Männer stehend im unteren Bereich, die Frauen nach orientalischer Sitte auf der Empore. Nur alte Menschen setzen sich auf die Bankreihen. Während der Andacht tragen die Männer eine Kappe, die Frauen Tücher. Der karäische Glaube ist einer von neun anerkannten Religionen dieses Landes und hat ein Recht auf staatliche finanzielle Unterstützung. Man ist Mitglied der Gemeinde durch Geburt. Kinder aus Ehen mit Andersgläubigen lernen zwar die Traditionen und die Sprache, sind aber nicht Mitglied der Gemeinde.
Die Gemeinde in Vilnius hat sich zur Aufgabe gemacht, die Sitten und Gebräuche sowie die Sprache zu pflegen, die Ausdruck ihrer Identität ist. Sie wird in der Familie und während des Gottesdienstes gesprochen. Es gibt sowohl poetische Texte als auch religiöse Schriften und den jährlichen Kalender in karäischer Sprache. Die Gemeinde wählt aus ihrer Mitte den geistlichen Vorsteher. Es werden im Jahr ca. 6 religiöse Feste in der Kanesa gefeiert, z.B. Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen.
Die Aktivitäten der Gemeinde sind:
* Jugendarbeit (Kinderensemble)
* Schule zur Pflege der Sprache -Sport- und Kulturveranstaltungen
* Treffen mit Gemeinden aus Polen, Ukraine und den türkisch asabaidschanischen Gemeinden
Ulrike Strobel
Fahrt nach Trakai
Nach der Rundfahrt durch die Neustadt von Vilnius machten wir uns auf die Fahrt nach Trakai,das in einem ausgedehnten Nationalpark 28 km westlich von Vilnius liegt. Es besteht aus dem Ort Trakai( Senieji Trakai ) und der Burg. Leider regnete es auf der Fahrt dorthin, aber es war doch ein malerischer Anblick, als wir durch den Ort Trakai fuhren und dann die mächtige , aus roten Ziegelsteinen erbaute Burg erblickten, die inmitten dreier Seen auf einer kleinen Insel liegt.
Die Stadt Trakai hat etwa 6000 Einwohner. Hier leben auch noch viele Karäer. Insgesamt gibt es noch 275 Menschen karäischen Glaubens, davon 32 Kinder unter 16 Jahren, 9 leben im Ort Trakai. Ihre bunt bemalten Holzhäuser – meist in den Farben Gelb und Grün- erkennt man daran, dass sie drei Fenster zur Straßenfront haben, eins für die Familie, eins für Gott und eins für den Großfürsten. Im Innern sind sie in einen Teil für Männer und einen für Frauen eingerichtet.
Die Burg Trakai ist die einzige Wasserburganlage im Baltikum.
Im Mittelalter war Trakai der Sitz des Großfürsten und die Hauptstadt sowie der ständige geistige Mittelpunkt des litauischen Fürstentums. Dessen Gebiet erstreckte sich zeitweise bis zum Schwarzen Meer und zur Krim. Durch die Heirat der ungarischen Fürstentochter Hedwig mit Vladislaw Jagiello, einem Bruder des Regenten Vytautas, im Jahre 1386 wurde die Christianisierung in Litauen eingeführt, ebenso die Dreifelderwirtschaft und eine Ständegesellschaft.
Vytautas wurde um das Jahr 1350 auf Trakai geboren, er kann als der Begründer des großlitauischen Fürstentums bezeichnet werden,.
Die Burganlage wurde im 14. und 15. Jahrhundert erbaut, anfangs als Wehrburg gebaut und ausgeführt. Der Komplex besteht aus dem Fürstenpalais, das von einer Verteidigungsmauer umgeben ist und einer Vorburg, die vom eigentlichen Schloss durch einen tiefen Wassergraben getrennt ist. In dem herrlichen großen Hauptsaal mit seinem wunderbaren gotischen Kreuzgewölbe wurde der Sieg über den Deutschen Orden ( Schlacht bei Tannenberg 1410 ) 14 Tage lang gefeiert.
Von nun an verlor die Burg ihre Funktion als Wehrburg, sie wurde die Residenz der litauischen Großfürsten und diente vor allem zur Repräsentation und zu Festlichkeiten. Im Jahre 1430 wollte Vytautas seine Krönungsfeier hier abhalten, wurde aber durch einen Überfall polnischer Adliger daran gehindert. Nach seinem Tod verfiel die Burg, sie wurde im 17. Jahrhundert während eines Krieges mit Moskau fast vollständig zerstört.
Erst im Jahr 1926 wurde sie konserviert und nachdem zweiten Weltkrieg begann der Wiederaufbau.
Heute ist Trakai das beeindruckendste Festungsbauwerk in Litauen.
Der fünfstöckige Burgfried dominiert den Gebäudekomplex. Durch die Toreinfahrt gelangt man in den Burghof des gotischen Fürstenpalastes. Früher gab es eine Zugbrücke und ein Fallgitter, das die Burganlage schützte. Die Räume des Fürstenpalastes sind rund um den rechteckigen Innenhof angeordnet. Die einzelnen Gemächer sind durch hölzerne Galerien miteinander verbunden.
Wahrscheinlich bewohnte der Fürst die Räume in der ersten Etage. Die Wände sind mit Fresken dekoriert, die Decken sind mit sternförmigen Gewölben versehen, zur Dekoration verwendete man verschieden geformte Ziegelsteine sowie Bleiglas und glasierte Kacheln.
Seit 1962 ist die Burg Trakai ein historisches Museum mit einer umfangreichen Sammlung an Kunstgewerbe, Glas, Porzellan und Pfeifen aus dem 18. Jahrhundert. Sie beherbergt auch eine repräsentative Sammlung von Dingen, die zur Kultur der Karäer gehören.
Im Ort Trakai besuchten wir das kleine Museum der karäischen Kultur. Es wurde von S. Shapsal, dem letzten karäischen Priester in Litauen( 1873- 1961) gegründet und gibt einen guten Überblick über die Lebensweise und Kultur der Karäer. Aus der ganzen Welt wurden die Trachten, Bilder, Waffen und häusliche Gerätschaften zusammengetragen. Besonderes Interesse weckte bei uns der eigenartige Gebrauch von Löffel und Pfeife in einem Kinderbettchen!
letzte Station: Vilnius
Die litauische Hauptstadt liegt im Flusstal von Neris und Vilnia. Barocke Häuser und Kirchen sind in der ausgedehnten Altstadt in einer Vielzahl zu besichtigen. Im Zweiten Weltkrieg wurden viele Gebäude zerstört. Der Wiederaufbau begann 1958 . Zwischen 1975 und 1990 wurden einige Viertel vollständig erneuert.
Unsere Besichtigung der Altstadt führte uns zuerst mit dem Bus vorbei an der Sankt Rafael Kirche, die früher eine Station auf dem Kreuzweg war, dann weiter zur Sporthalle, die auf dem ehemaligen Gelände des jüdischen Friedhofs gebaut wurde. Unsere erste Besichtigungsstation war dann die Peter und Paul Kirche. Es ist eine der schönsten Kirchen von Vilnius. Baubeginn war 1668. Gestiftet wurde die Kirche von Michael Kasimir Paz und entworfen von dem Architekten Giovanni Zaor. Ein Architekturdenkmal, das sich durch seine Wand-, Gewölbe- und Kuppelausführung auszeichnet. Im Kircheninneren dominiert die Farbe weiß. Als Verzierung sind ca. 2000 Gesichter und Figuren angebracht.
Dann ging es weiter auf einen der sieben Hügel. Auf diesem Hügel wurden im Jahre 1916 3 Kreuze errichtet, die 1950 von den Russen gesprengt wurden und im Jahr 1989 wieder neu errichtet wurden. Dort offenbarte sich ein schöner Blick über die Dächer von Vilnius.
Der Bus brachte uns nun in den Altstadtkern. Von da aus ging es nun zu Fuß weiter. Die Kathedrale mit dem freistehenden Glockenturm ist ein beliebter Treffpunkt. Die im klassizistischen Stil gebaute Kirche entstand auf den Steinen der ersten christlichen Kirche, die nach der Konvertierung von König Mindaugas im 14. Jahrhundert errichtet wurde. Am Ostrand des Kathedralenplatzes steht das Denkmal des Großfürsten Gediminas. Er machte Vilnius im Spätmittelalter zur Hauptstadt.
Im Präsidentenpalast residierte 1812 Napoleon. Im Zweiten Weltkrieg war es das Quartier
der NSDAP Leitung und danach Unterkunft für die russischen Offiziere. Weiter führte unser weg zur Universität, die direkt im Altstadtkern gelegen ist. Der Komplex
umfasst viele Lehrgebäude und 12 Innenhöfe aus dem 16. - 20. Jahrhundert. In den Häusern an der Hauptachse der Altstadt befinden sich heute Hotels und Geschäfte, die teilweise noch wunderschöne, gotische Kellergewölbe aufweisen.
Drei Meisterwerke der Hochgotik bewunderten wir gleich an einem Platz. Vorbei an der Sankt Annenkirche gelangen wir durch einen gotischen Torbogen vor die Bernhardiner Kirche. Links von der Sankt Annenkirche sahen wir den barocken Turm der Michaelskirche mit dem angeschlossenen Bernhardinerkloster. Alle anderen Sehenswürdigkeiten besuchen wir doch bitte in unserer Freizeit!!!!! So, und jetzt ab in den Bus, denn das Mittagsprogramm sollte sich anschließen..
Klaudia Masnitza