Arbeitskreis Internationale Jugendarbeit
mit Israel im Kreis Wesel e. V.

Arbeitskreis Internationale Jugendarbeit mit Israel e. V.

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Herrschaften und Herrenhäuser

Der Tagesspruch

„Wie kann ich wissen was ich denke, wenn ich noch nicht gehört habe, was ich sagen werde“.(Sprichwort der Esten, das die nationale Fähigkeit des Schnellsprechens beschreibt. Zitiert nach Annelie, der Reiseführerin dieses Tages).

Die Tagesaufgabe

Hören – sehen - staunen – fotografieren - Kurz: Tourist sein.

Die Fortbewegungsart

Hauptsächlich auf Busrädern. Ab und an auf eigenen Füßen.

Die Ausrüstung

Regenschirm, Kapuze und Handschuhe (wären schön gewesen hatten aber nur die „Zur Sicherheit nehme ich das mal mit“ Ausrüstungsprofis).

Die Route

Start in Tallinn. Wir passieren Blumenmarkt und neues Einkaufszentrum, fahren durch ein tristes Vorstadtviertel und holpern über die das alte Kopfsteinpflaster im sich anschließenden Vorort Katharinental. Fahren vorbei an malerischen alten Holzhäusern in verwunschenen Gärten und halten an der Sängerwiese.

Die Sängerwiese ist eine sorgfältig gepflegte Rasenfläche an einem Hügel, an dessen Ende ein Pavillon zu erkennen ist. Unbeeindruckt vom Nieselregen (und höchstwahrscheinlich mit nassen kalten Füßen) sitzt am Rande der Wiese die Bronze -Gestalt des estnische Volksschriftsteller Voldemar Jannsen (1761-1819).

Seit 1869 strömen hier alle fünf Jahre hunderte von Chören und tausende Zuhörer (1990, ein Jahr vor des estnischen Unabhängigkeit waren es 300 000!), meist in alten Trachten, aus dem ganzen Land zusammen und singen estnische Volkslieder. Diese Wiese scheint für die Esten eine ganz besondere Bedeutung zu haben, was sich jetzt aber nicht ganz erschließt. Wir vertrauen auf unseren Tagesspruch und warten ab, was der Tag noch bringen wird.

Entlang der Tallinner Bucht gelangen wir jetzt in eine „bessere Leute Gegend“. Wir werfen einen Blick auf die Sommerresidenz von Zar Peter I (1689-1725) und lassen die Botschaften des Vatikans und Chinas einfach rechts liegen. Gleich darauf befinden wir uns in einer sozialistischen Plattenbausiedlung (die natürlich nicht mehr an der Bucht liegt) und landen auf einer entsprechenden Schnellstraße (mindestens so trostlos wie die Plattenbausiedlung), die uns in Richtung Rakvere führt. Schnell ein Blick aus dem Bus auf 3000 Jahre alte Steinkistengräber (auch damals wurde also schon gestorben…) und dann ein Stopp an der „Kleinen Schänke“, dem einzigen Gasthaus weit und breit. Die flache sandige Landschaft, durch die wir weiterfahren, hat alle Kriege gesehen, die jemals in Estland geführt wurden. Die Gegend schient wenig besiedelt zu sein. Buchenwälder (nicht so hoch und so dicht wie bei uns) wechseln sich mit Birkenhainen ab. Dazwischen Sand- und Moorflächen durchzogen mit Heide (sagt Annelie) und sonstigen genügsamen Sträuchern.

In Rakvere parken wir vor dem Herrenhaus (nennt sich so – sieht nicht mehr so aus) der Familie von Thyssenhausen, treffen danach auf einen imposanten Wisent (ungefährlich, da nur aus Gusseisen), dem Wahrzeichen der größten Stadt (Für die Statistiker: 17 065 Einwohner) der Region und landen vor den Toren der Ruine einer Ordensburg. Hier hauste einst ein geistlicher Ritterorden (1252), der sich, je nachdem, gegen Bischoff oder König zu wehren hatte. Wir umrunden die Ruine und werfen von der Anhöhe einen Blick über den Burgwall auf das im Dunst liegende Rakvere. Die Ritter (und das was aus dem 13. Jhd. von ihnen übrig geblieben ist) lassen wir hinter uns und wechseln die Richtung und die Zeit, hin zu herrschaftlichen Gutshäusern deutscher Großgrundbesitzer aus dem 18. Jhd. Bei der Enteignung der Großgrundbesitzer durch die russische Besatzungsmacht (1919), gab es in Estland 840 Güter. Zu einem Herrensitz gehörten nicht selten mehr als 20 Dörfer mit ca. 1500 Hektar (15 000 km2). Die gut erhaltenen Gutshäuser in Sagadi und Palmse werden wir besuchen.

Unterwegs stoßen wir aber erst einmal in Haljala sowohl auf Spuren von Rittern als auch auf die von Herren. Auf dem Friedhof der Wehrkirche (14.Jhd.), die einst als Vorposten der Ordensburg diente, zeugen die Grabsteinen, auf denen, außer den Namen der Pfarrer, fast nur „hochherrschaftliche“ deutsche Namen stehen, von den ehemaligen Grundherren.

Dort, wo deutsche Feudalherren herrschten, hat heute – zumindest in dem ehemaligen Gebiet der Herrenhäuser in Sagadi und Palmse - Flora, Fauna das Zepter übernommen. Rund um die Gutshäuser befindet sich jetzt der Lahemaa-Nationalpark. Die ursprüngliche Landschaft, die wir durchqueren, lässt sich vom Bus aus mehr erahnen als erleben. Dafür umrunden wir das Herrenhaus in Sagadi und in Palmse gehen wir rein. Wir erleben den Wohnstil einer ländlichen Oberschicht des 18. und 19. Jahrhunderts: Das Haus von einem Star-Architekten gebaut. Der Garten ist ein Park und das Esszimmer ist ein kleiner Saal. Was Leibeigenschaft bedeutet, die diese Großzügigkeit ermöglichte, das lässt sich hier nicht erfahren. Mit Glück hätten die meisten von uns zu der Zeit eventuell in der Küche arbeiten dürfen oder wir wären Schweinehirten gewesen…
Auf der Fahrt zurück nach Tallinn gehen mir solche Gedanken durch den Kopf. Liegt es an den Eindrücken aus dem Herrenhaus oder an dem nasskalten niedrigen grauen Himmel? Egal – ich schlafe ein, wie die meisten im Bus.

Eindrücke

Die Fahrt durch Tallinn und seine Vororte erscheint wie eine Fahrt durch die gesellschaftlichen Klassen Estlands: Arbeiter in tristen Vorstädten, Bürgertum in ererbten Holzhäusern, das schicke Viertel an der Tallinner Bucht mit Diplomaten und reichen Menschen und schließlich die Plattenbausiedlungen mit Eigentumswohnungen und aufstrebenden Handwerkern und Bildungsbürgern.

Die Landschaft ist flach und menschenleer und erinnert „irgendwie“ an die Lüneburger Heide. Hier gibt es noch Bären, Wölfe und Elche, die wir aber nicht zu Gesicht bekommen.

Der Touristentag entpuppt sich als ein Tag der deutschen Geschichte des 13. - 19:Jahrhundert. Der Deutscher Orden, der Städtebund der Hanse (Rakvere war, wie alle estnischen Städte, eine Hansestadt) und schließlich die Großgrundbesitzer. Es ist eine Geschichte in der es in erster Linie um Herrschaft geht, die mit Hilfe des Schwertes, mit Geld oder Frondiensten durchgesetzt wird.

Auf dem Hintergrund einer ständigen Besetzung des Landes durch unterschiedliche Nachbarstaten zu unterschiedlichen Zeiten und über Jahrhunderte, wird die Bedeutung der Sängerwiese in Tallinn, die wir am Morgen des Tages besucht haben, jetzt deutlich. Die Lieder des Sängerfestes verkörpern die estnische Identität, sie gaben Orientierung, sie grenzten die Machthaber aus. Die Machthaber wechselten, aber die Lieder blieben.

Buchtipp

Für diejenigen, die alles genau wisse wollen:
Meissner, Boris u.a.: Die deutsche Volksgruppe in Estland, Hamburg 1977.
Verlag: Bibliotheca Baltica, Hamburg, ISBN 9985-800-14-1

Nachwort

Nachdem wir jetzt alles gesagt haben, wissen wir, was wir über diesen Tag denken:

Unser Horizont ist heute weiter geworden, obwohl der Himmel sehr tief hing.