Arbeitskreis Internationale Jugendarbeit
mit Israel im Kreis Wesel e. V.

Arbeitskreis Internationale Jugendarbeit mit Israel e. V.

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Besuch des Jüdischen Gymnasiums in Tallinn

Nach einem herzhaftem Frühstück im Hotel und guter Stimmung in Erwartung der Dinge des 2. Reisetages ging es mit dem Bus zum „Jüdischen Gymnasium" in der Nähe des Hafens. Durch eine schmale Eingangstür betraten wir ein unauffälliges mehrstöckiges Gebäude und wurden mit den Worten „Good morning, please come with me!" in die Aula im 1. Stock geführt. An der Stirnwand stand die Zahl 5765 für den jüdischen Kalender.
Der Schulleiter war nach anfänglicher Zurückhaltung bemüht, uns einen kurzen Abriss der Schule zu vermitteln und stellte sich anschließend unseren Fragen.

Die Schule wurde im Jahre 1924 von der jüdischen Gemeinde zu Tallinn, die damals 3000 Mitglieder besaß, gegründet. Als Gymnasium der jüdischen Gemeinde existierte die Schule bis zum Jahr 1940, in dem als Folge des Hitler-Stalin-Paktes die baltischen Staaten von der Sowjetunion besetzt wurden. Unter den Sowjets wurde das jüdische Gymnasium in eine Berufs- und Seemannsschule umgewandelt. Diese Funktion wurde auch zur Zeit der faschistischen Besetzung beibehalten und nach der Befreiung 1944 - „als die Befreier gleich blieben" - bis zur Unabhängigkeit 1990 so fortgesetzt.

Seit 1990 ist diese Schule wieder „Jüdisches Gymnasium" mit z. Zt. 211 Schüler(innen). Sie ist das einzige jüdisches Gymnasium in Estland und umfaßt die Klassen 1-12, wobei die Klassen 10-12 zum Abitur führen.

80% der estnischen Abiturienten studieren, davon etwa 50% mit Stipendium. Nach der Grundschule wechselt man aufs Technikum oder aufs College, wenn man kein Abitur machen will.

Bei dem „Jüdischen Gymnasium" handelt es sich um eine staatliche Schule mit etwa 45% jüdischen Lehrern. Für alle Lehrer gibt es zusätzliche Pflichtseminare in Israel. Es ist eine allgemeine Schule mit speziellen Fächern wie jüdischer Geschichte, jüdischer Kultur und Musik, sowie jüdischer Sprache. Die Unterrichtssprache ist russisch; daneben wird hebräisch, englisch und estnisch gelehrt. Unter der sowjetischen Besatzung wurde 40 Jahre lang nur russisch zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten gesprochen, so daß heute noch viele Menschen nur die russische Sprache beherrschen.

Nicht alle Schüler sind jüdischen Glaubens. Die Schule ist für Kinder aller Konfessionen und für konfessionslose Kinder offen, vorausgesetzt, sie sind für den Besuch dieser Schule geeignet.

Die geringe Größe der Schule mit kleinen Klassen und der gute Ruf veranlassen nichtjüdische Eltern, ihre Kinder auf diese Schule zu schicken. Die Teilnahme an den jüdischen Fächern ist verbindlich. Es wird kein Schulgeld erhoben, jedoch gibt es speziellen Unterricht wie etwa „Englisch ab der 2. Klasse", „Jura" oder „Wirtschaft", der besonders bezahlt werden muß.
Neben den allgemeinen Feiertagen in Estland werden die wichtigsten jüdischen Feiertage gefeiert, so daß zum Erreichen der vorgeschriebenen 175 Schultage häufig vor- und nachgearbeitet werden muß.

Voller Stolz führte uns der Schulleiter durch die verschiedenen Klassen. Große Teile der Schule waren frisch renoviert - teilweise mit Stiftungsmitteln aus den USA. Sein besonderer Stolz galt dem neuinstallierten Computerraum sowie der Bibliothek.
Immer wieder trafen uns die fragenden Blicke der Schüler. Wenn dann bekannt wurde, daß wir aus Deutschland kamen, war - soweit in der kurzen Zeit möglich -das Interesse mit Fragen groß.

Die Schule pflegt Austauschprojekte mit Schulen in Israel, den skandinavischen Ländern und Großbritannien.

Anschließend wurde uns durch den Direktor noch ein Besuch der einzigen Synagoge Tallinns vermittelt. Sie befindet sich direkt neben der Schule in der 1. Etage. Die Jüdische Gemeinde besteht heute wieder aus ca 2000 Mitgliedern, wovon ein erheblicher Anteil aus Rußland, Weißrußland und der Ukraine eingewandert ist.

Der Gemeinde steht seit 3 Jahren ein neuer Rabbi aus Israel vor und es wird der Neubau einer Synagoge mit Begegnungszentrum neben dem jetzigen Gebäude geplant. Nach den Aussagen des Rabbis ist der Antisemitismus in Estland z. Zt. wohl kein Problem. Im ganzen Land existiert jedoch keine weitere jüdische Gemeinde. Es ergab sich ein angeregter Austausch mit zwei gut deutsch sprechenden Gemeindemitgliedern. Trotz ihres durch die faschistischen Besatzer zum Teil auch persönlich erlittenen Leides waren wir alle von der großen Herzlichkeit und Zuneigung berührt.

Estland als das kleinste der drei baltischen Staaten hat etwa 1,5 Millionen Einwohner, die zu mehr als 2/3 auf die Städte (Tallinn ca. 500 000 Einwohner) konzentriert sind. Knapp 45 % sind russischer Staatsangehörigkeit und besitzen kein Wahlrecht. Mit der Aufnahme in die NATO 2003 und in die EU 2004 hat sich für die estnischen Einwohner ein deutlicher Gewinn an Sicherheit ergeben. Die Nähe zu Finnland war immer ein Fenster zum Westen, weil die Sprachen sehr ähnlich und gegenseitig verständlich sind. Wirtschaftlich sind neben dem Fischfang und der Holzwirtschaft vor allem der Abbau der begrenzten Bodenschätze (Ölschiefer) sowie hauptsächlich der sich entwickelnde Tourismus von Bedeutung.

Wort des 1. Reiseabschnitts:
„Wie kann ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht gehört habe, was ich sage."

M. u. W. Zunker