Arbeitskreis Internationale Jugendarbeit
mit Israel im Kreis Wesel e. V.

Arbeitskreis Internationale Jugendarbeit mit Israel e. V.

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Budapest 1995
Gespräch und Führung mit Frau Wimmer
Besuch beim Raoul-Wallenberg-Komitee
Besuch des jüdischen Viertels in Budapest
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Bericht über die Studienfahrt nach Budapest 1995

 

Vorwort

Der Arbeitskreis Internationale Jugendarbeit mit Israel fuhr in den Herbstferien 1995 nach Budapest. Die 35 Personen starke Gruppe setzte sich überwiegend aus Lehrern und in der Politischen Erziehungsarbeit stehenden Menschen zusammen.

Parallel zu den Jugendbegegnungen mit Israel, die der Arbeitskreis seit nunmehr 14 Jahren betreibt, fahren die aktiven Mitglieder in deutsche Nachbarländer, um Wurzeln jüdischen Lebens in Europa zu entdecken. Dazu gehört insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. So führten Studienfahrten in den letzten Jahren u.a. nach Auschwitz, Theresienstadt bei Prag und nach St. Petersburg. In diesem Jahr wollte die Studiengruppe unter der Leitung von Gabi und Paul Süßer, sowie Otto Laakmann, jüdisches Leben der Vergangenheit und Gegenwart in Budapest kennenlernen.

Der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg hat in der Endphase des 2. Weltkrieges, während der deutschen Besatzungszeit in Budapest viele Juden vor dem Tod in den Gaskammern des NS-Regimes bewahrt, indem er ihnen schwedische Diplomatenpässe zur Ausreise aus Ungarn verschaffte. Ähnlich wie Oskar Schindler rettete er somit rund 100.000 Menschen vor dem sicheren Tod. Das Schicksal von Wallenberg ist bis heute ungeklärt, es wird vermutet, daß er in einem sowjetischen Gefängnis 1947 starb. Posthum hat der Europarat in diesem Jahr Wallenberg mit dem Menschenrechtspreis geehrt. Auch in der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wird an den mutigen schwedischen Diplomaten erinnert.

Die Ergebnisse dieser Studienfahrt sollen in die künftigen Jugendbegegnungen mit der Moerser Partnerstadt Ramla in Israel einfließen. Bekanntlich hat sich aus den seit 1961 begonnenen Jugendauschfahrten mit Israel 1987 die offizielle Städtepartnerschaft entwickelt. In den Jahren haben rund 350 Personen, überwiegend Jugendliche, an dem jährlichen Begegnungsprogramm teilgenommen. Eine intensive Vorbereitung über die deutsch-israelische Geschichte, die jüdische Religion und Sitten gehört zu den Aufgaben der Mitglieder des Arbeitskreises Israel.


 

Gespräch und Führung mit Frau Wimmer

Frau Wimmer teilte uns mit, daß sie mit 18 Jahren gefragt wurde, ob sie als Dolmetscherin für Raoul Wallenberg arbeiten wolle. Nach anfänglichem Zögern, aufgrund ihres Alters, sagte sie zu. Zu Beginn der Arbeit von Wallenberg teilte die schwedische Botschaft Schutzpässe an die Juden aus, die eine Verbindung nach Schweden hatten. Das neue an den "Wallenberg-Pässen" war, daß diese ohne Vorbedingungen ausgeteilt wurden. Diese Dokumente hatte Wallenberg selbst entworfen. Was nun war der Wert dieses Papieres? Es sorgte dafür, daß die deutschen und ungarischen Nazibehörden erkannten, daß jenseits der brutalen Macht eine moralische Kraft besteht, der sie unterlegen sind. Der Wallenberg-Paß bescheingte den Inhabern auf deutsch und ungarisch, daß sie unter dem Schutz des swedischen Königreichs stehen und in einem Kollektivpaß eingetragen sind, womit sich die Erlaubnis verbindet, nach Schweden einzureisen.

Im August 1944 wurde ein Transport von 1.000 Juden für Auschwitz zusammengestellt. Man trieb die Budapester Juden zusammen, um sie "verladefertig" zu machen. Wallenberg verteilte kurz vor Abfahrt des Zuges seine Pässe, was zu Folge hatte, daß der Zug nicht nach Auschwitz fuhr. Um die Situation der Juden in Budapest zu verbessern, kaufte Wallenberg in der Phönixstraße einen Häuserkomplex, erklärte ihn zum Bestandteil der schwedischen Gesandschaft und mithin zum exterritorialen Gebiet und zog darüber die Schwedenflagge auf. Sechs Wochen nach seiner Ankunft verfügte er über eine Organisation von 355 Mitarbeitern, dazu 40 Ärzte, er betrieb 35 Schutzhäuser mit rund 15.000 Bewohnern, 2 Krankenhäuser, Suppenküchen und Kindergärten.

Frau Wimmer berichtete, daß sich das Leben in den Schutzhäusem nicht einfach gestaltete. Die Bewohner konnten das Haus täglich zwischen 10.00 und 12.00 Uhr verlassen. Diese 2 Stunden reichten jedoch nicht, um sich Lebensmittel oder Medikamentente zu kaufen, da die Menschen für jedes Gut anstehen mußten. Es war daher nötig, die Häuser mit den lebensnotwendigen Dingen zu versorgen. Um dies zu bewerkstelligen, wurde z.B. von den Mitarbeitern Wallenbergs eine Art Plätzchen gebacken und in 1- bzw. 2-Personen-Portionen verpackt. Diese Ration reichte aus, um nicht zu sterben. Für seine Mitarbeiter besorgte Wallenberg Pässe der faschistischen Behörden, was die Verteilung der Lebemmittel vereinfachte.

In den Schutzhäusern lebten Kinder unter 16 Jahren und alte Menschen über 60 Jahren. Alle anderen wurden zur Zwangsarbeit herangezogen. Ungarische Faschisten wurden eingesetzt, um zu kontrollieren, ob nicht auch ältere Jugendliche in den Mäusern lebten.
Am 15.Oktober 1944 übernahmen die Pfeilkreuzler die Macht, eine Gruppe, die direkt von Eichmann abhing. Da die Rote Armee vor Budapest stand, wurden 40.000 Juden fü r einen Fußmarsch zur 240 km entfernten Grenze zu Österreich zusammengetrieben. Auf dieser Todesstraße teilten fanatische junge Pfeilkreuzler freigiebig Schüsse, Knutenhiebe und Kolbenschläge aus. Wer nicht gehen konnte oder stehen blieb, wurde erschossen. Wallenberg rettete auf diesem Todesmarsch 4.000 Menschen. Frau Wimmer betonte, daß es ungarische Freiwillige waren, die diesen Marsch organisierten.

Worin bestand die Macht Wallenbergs? Frau Wimmer nannte vier Punkte:

  • Schweden war neutral.
  • Wallenberg verteilte Bestechungsgeschenke.
  • Wallenberg war eine beeindruckende Persönlichkeit und zeigte keine Angst.
  • Wallenberg sollte sich ggf. für die Deutschen bei der Roten Armee, die ja vor den Toren von Budapest standen, einsetzen.

Das Motiv Wallenbergs, sich unter Einsatz seines Lebens für unbekannte Menschen einzusetzen, war nicht der Dank dieser Menschen. Für Frau Wimmer wurde Wallenberg aktiv, weil Leben bedroht war.


 

Besuch beim Raoul-Wallenberg-Komitee

Unser Ziel ist das Haus Nr. 61 auf der Banoss utca, einer belebten Geschäftsstraße im Pester Teil der Stadt. Ein Schild am Eingang mit einem Logo in Form eines hell/dunkelblauen W's, das in der Mitte zu einem Herzen stilisiert ist - weist uns den Weg in den vierten Stock. Hier befinden sich die Räumlichkeiten des Budapester Raoul-Wallenberg-Komitees. Es sind zwei kleine, eher bescheiden möblierte Zimmer, in denen wir erwartet werden. Der Empfang durch die Vorsitzende des Vereins, Frau Eva Batholon ist ausgesprochen herzlich. Weiter anwesend sind der ehrenamtlich tätige Geschäftsführer Endre Huff und Frau Wimmer die als Dolmetscherin fungiert.

Der Verein ist im Dezember 1988 gegründet worden und hat derzeit etwa 400 Mitglieder. Er bekommt im Jahr 200.000 Forint staatliche Fördermittel, was lt. Auskunft von Herrn Huff "kaum zur Miete reicht". Die Mitglieder zahlen einen Jahresbeitrag von 150 - 200 Forint. Es gibt nur wenig junge Mitglieder, das Durchschnittsalter liegt bei ca. 50 Jahren.

An Überlegungen zu dem Schicksal Raoul Wallenbergs in der ehemaligen Sowjetunion beteiligt sich der Verein nur am Rande. Dies sei, so die Vorsitzende, eher die Aufgabe wissenschaftlicher Forschung. Das Wallenberg Komitee ist an praktischer, tagespolitischer Arbeit interessiert. Der Verein hat sich in der Tradition Raoul Wallenbergs den Kampf für die Rechte von Minderheiten zum Ziel gesetzt. Er wendet sich gegen Vorurteile und Diskriminierungen gesellschaftlicher Randgruppen. Der Name "Wallenberg" ist gleichzeitig Symbol und Programm und steht lt. Eva Batholon für "tiefe Menschlichkeit". Durch die Zusammenarbeit mit befreundeten Joumalisten werden Beiträge nüt den Zielsetzung des Vereins in verschiedene Radioprogramme und Zeitungen lanciert.

Im Mai 1992 wird auf Initiative des Vereins vor dem Wallenberg-Denkmal, anläßlich seines achtzigsten Geburtstags, eine Ehrenwache abgehalten. Die ungarische Staatsführung bekennt sich damit zum ersten Mal zu den Aktivitäten des Schweden.

Als weiteren Erfolg wertet das Komitee einen offenen Brief an das ungarische Parlament, der die Tage der faschistischen Pfeilkreuzer in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit rückt. Im Verbot einer, vom Wallenberg-Komitee mitgetragenen Gedenkfeier vor der Synagoge, die im Oktober 1994 an die Regierungsübemahme der Faschisten in Ungarn erinnern sollte, sieht das Komitee ein Indiz für einen latenten Antisemitismus in Ungarn. Einen aktuellen Schwerpunkt der Vereinsarbeit bildet der Einsatz für die Rechte der ca. 500.000 in Ungam lebenden Sinti und Roma.

Das Wallenberg-Komitee hat Kontakte zu den unterschiedlichsten Organisationen und Gruppierungen. In Zusammenarbeit rnit der Anne-Frank-Gesellschaft in Amsterdam ist z.B. eine Ausstellung zum Leben Anne Franks und zur Judenverfolgung in Ungam organisiert worden. Verbindung gibt es zur Budapester jüdischen Gemeinde, deren Rabbi Mitglied im Verein ist. Verbindungen gibt es ebenso zur christlich-jüdischen Gemeinschaft Budapests. Die Vorsitzende des Komitees äußerste großes Interesse, mit der Moerser christlich-jüdischen Gesellschaft weiterhin Kontakt zu halten.


 

Besuch des jüdischen Viertels in Budapest

Besuch des jüdischen Viertels in Budapest, Elisabethenstadt, Dohanystraße:
In diesem Viertel liegt die im romantisierten, maurisch-byzantinischen Stil 1854 bis 1859 erbaute jüdische Synagoge (eine der größten Europas) sowie das jüdische Museum. Im Innenhof der Synagoge liegt ein Friedhof mit ca. 2.000 Gräbern, der in der Zeit des Budapester Ghettos gestorbenen jüdischen Ghettobewohnern. Hinter der Synagoge befindet sich ein Denkmal in Form eines Olivenbaumes als "Baum der Erinnerung". Zur Erinnerung an eine bestimmte Person kann man ein Olivenblatt mit eingeprägtem Namen kaufen und an diesen Baum anbringen lassen. Neben der Synagoge, die überwiegend nicht beheizt und nur bei großen Feiertagen genutzt wird, befindet sich eine kleinere, ständig genutzte Synagoge, sowie die Gemeindeverwaltung.

Die gesamte Synagoge wurde gerade erst im großen Stil neu renoviert. Beide, Synagoge und Museum, konnten leider jedoch entgegen der Absicht nicht besucht werden, da sie während der Festtage zum jüdischen Laubhüttenfest für Besucher geschlossen war. (Der Besuch des Museums wurde am 19.10.1995 nachgeholt. Aus diesem Grunde gab die Reiseleiterin einen kurzen Überblick über die jüdische Situation nach dem zweiten Weltkrieg.

Eine Überlebende des Holocaust, Ilona Sidlo, arbeitet heute als Historikerin im jüdischen Museum von Budapest. Dort ist in eindrucksvoller Weise die Vernichtungsaktion der deutschen Truppen, aber auch der mutige Wideretand einzelner Menschen dokumentiert. Der Zeitzeugenbericht von Ilona Sidlo führte allen Fahrtteilnehmern deutlich vor Augen, daß die Folgen der NS-Zeit auch 50 Jahre nach Kriegsende noch immer spürbar sind. Die Auseinandersetzung mit der negativen Seite der deutschen Geschichte ist eine Verpflichtung, die jeder Deutsche wahrnehmen sollte, damit sich Neonazismus und Antisemitismus nicht wiederholen kann. "Aus der Geschichte für die Zukunft lernen," unter diesem Motto stand auch der Besuch in einer ungarischen Schule. Mit großem Einsatz lernen heute viele junge Menschen die deutsche Sprache. Ungarn sucht den Kontakt zur eurpäischen Gemeinschaft. Wirtschaftlich haben sich die Verhältnisse nach dem Zerfall des sogenannten "Eisernen Vorhanges" bereits bemerkenswert in Ungarn stabilisiert.

Zum Zeitpunkt September 1944 lebten ca. 820.000 Juden in Ungarn, der größte Teil davon als orthodoxe Juden auf dem Lande. In der kurzen Zeit der faschistischen Herrschaft der Nazis sowie der Hortyregierung vom September 1944 bis Februar 1945 sind davon 500.000 (überwiegend vom Lande) in KZ's umgekommen. Am Ende des Krieges gab es noch ca. 200.000 Juden, von denen zwischenzeitlich sehr viele nach Israel bzw. in die USA ausgewandert sind.

Heute leben ca. 80.000 Juden (überwiegend nichtorthodox) in Ungarn, davon 60.000 in Budapest. Die jüdische Gemeinde in Budepest ist mit rund 70.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde im europäischen Bereich. Allerdings lebten bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Ungarn dort rund 800.000 Menechen jüdischen Glaubens. Rund 600.000 wurden von den Schergen Adolf Eichmanns in die Gaskammern nach Auschwitz geschickt.

Von den 17 Synagogen der Stadt sind nur noch wenige in Betrieb. Obwohl ungarische Juden sich immer als erstes als ungarische Bürger und erst in zweiter Hinsicht als Juden gefühlt haben, führte das Judentum auch während der Zeit der kommunistischen Herrschaft ein (von der Stadt kaum unterstütztes) Schattendasein.